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08 Formatio reticularis

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Die Formatio reticularis (Netzsubstanz) bildet ein dichtes Geflecht aus Schaltneuronen und Fortsätzen im Tegmentum des Hirnstamms. Sie besitzt Verbindungen nach kaudal zum Eigenapparat der Rückenmarks und nach rostral zum Thalamus. Dabei belegt sie den von den Kernen und Strängen ausgesparten Raum. Ihre Neurone dienen sowohl somatischen wie viszeralen Funktionen.

1. Organisation der Formatio reticularis (FOR)

Die FOR kann morphologisch in drei Längssäulen gegliedert werden. Die erste Säule nimmt die Mittellinie ein und besteht aus mittelgroßen Neuronen. Daneben liegt die mediale Zone (intermediäre Zellsäule) mit sehr großen Neuronen, und seitlich schließt sich eine Säule an, die viele kleine Zellen enthält. Zellanhäufungen in Form von Kernformationen sind ebenso schwer auszumachen, wie kompakte Faserbündel zu verfolgen sind.

Abb 8-1a: Gliederung der FOR.
Legende

a)
M, Mediane (paramediane) Zellsäule (Raphekerne),

IM, Mediale Säule, die durch große, z.T. riesige Neurone gekennzeichnet ist,

L, Laterale Säule mit vielen kleinen Zellen (bei weitgehendem Fehlen großer Neurone)

2. Afferenzen

Die FOR erhält Zuflüsse aus den meisten Strukturen des ZNS. Meist handelt es sich um Seitenäste (Kollateralen) auf- und absteigender langer Leitungsbahnen aus folgenden Quellen:

1. Rückenmark: Afferenzen aus den Oberflächen- und Muskelrezeptoren über den Tr. spino-reticularis, sowie über Seitenäste (Kollaterale) des Vorderseiten- und des Hinterstrangsystems.

2. Motorische Regionen: Zuflüsse aus Kortexfelder, die an der Steuerung der Motorik beteiligt sind (Tr. cortico-reticularis).

3. Weitere Zugänge kommen aus dem Kleinhirn (Tr. cerebello-reticularis), den Hirnnervenkernen einschließlich der Vestibulariskerne, sowie der Hör- und Sehbahn.

3. Efferenzen

1. Tr. reticulo-bulbaris und Tr. reticulo-spinalis: Ursprung der langen auf- und absteigenden Bahnen bildet (vorwiegend) die mediale, magnozelluläre Zellsäule. Ihr Ziel sind die unteren Motoneurone (motorische Hirnnervenkerne und Rückenmark).

2. Raphekerne: (Ursprung des serotoninergen Systems). Absteigende Fasern zum Hinterhorn des Rückenmarks beteiligen sich an der Modulation der Erregungsüberleitung von Schmerzreizen.

Abb 8-2: Afferenzen und Efferenzen der Formatio reticularis.
Legende

1, Thalamus,
2, Ncl. ruber,
3, Kleinhirnkerne.

4. Innere Organisation der Formatio reticularis

4.1 Anatomische Organisation

Die FOR bildet ein weitgehend offenes Zellsystem, d. h. Zellansammlungen, die den Namen "Kern" verdienen, finden sich hier nicht. Die Axone verbleiben zum größten Teil innerhalb der FOR, soweit sie sich nicht den genannten auf- und absteigenden "retikulären" Faserverbindungen anschließen. Die Dendritenbäume sind typischerweise weit ausgebreitet und bevorzugt quer zu den langen auf- und absteigenden Fasersystemen orientiert. Auf diesen, wie lange Fühler ausgestreckten Dendritenbäumen konvergieren Eingänge aus sehr unterschiedlichen spezifischen Afferenzen. Die Inanspruchnahme einer einzigen Zelle durch Eingänge aus mehreren Quellen bedeutet, daß der sinnesspezifische und topographische "Inhalt" der Sinnesinformationen in der FOR verloren geht. Anders ausgedrückt sammelt die FOR "Proben" aus verschiedenen Impulsquellen und integriert die empfangenen Erregungen. Die anatomischen Befunde sprechen also dafür, daß die FOR ein Integrationszentrum für Impulse aus den Sinnesorganen und dem Rückenmark darstellt.

4.2 Physiologische Befunde

Physiologische Befunde haben gezeigt, daß die Impulse aus den Sinnessystemen zu einer Aktivierung der FOR und dadurch zu einer Anhebung des allgemeinen Aufmerksamkeitsniveaus führen. Der Wechsel von Unaufmerksamkeit zur verstärkten Aufmerksamkeit ist von einer typischen Änderung des elektroenzephalographischen Wellenmusters begleitet. Umgekehrt führt eine Zerstörung der FOR zu einer für das Schlafverhalten typischen Veränderung. Dieses Phänomen der unspezifischen Aktivierung der Hirnrinde mit plötzlich induzierbarer und im Elektroenzephalogramm nachweisbarer Aufmerksamkeitserhöhung hat zur Beschreibung der FOR als "aktivierendes retikuläres System" geführt.

Abb 8-3: Aktivierung der Hirnrinde mit plötzlich induzierbarer und im Elektroenzephalogramm nachweisbarer Aufmerksamkeitserhöhung (aktivierendes retikuläres System).
Legende

a, Zustand während des Schlafens,

b, Sinnesreiz mit Aufmerksamkeitszuwendung,

c, Erregtheitszustand.

Abk.:
FOR, Formatio reticularis,
T, Thalamus

4.3 Histochemische Befunde

Durch die Anwendung histochemischer Methoden ist das Problem der FOR wesentlich klarer geworden. Histochemisch lassen sich Zellpopulationen aufgrund ihrer chemischen Eigenschaften sortieren. In der FOR hat dies unter anderem zur Beschreibung von Serotonin-enthaltenden Zellgruppen in der medianen Zellsäule (Raphekerne), von Noradrenalin-enthaltenden Zellen des Locus coeruleus, von Azetylcholin-enthaltenden Zellen im dorsolateralen Tegmentum geführt (Kap. 21).

5. Funktion

1. Allgemein integrierende und aktivierende Rolle der FOR: In der FOR laufen Impulse der Reize aus allen Sinnessystemen über Kollateralfasern der betreffenden Bahnsysteme zusammen. Sie führen dort zu einer Erhöhung des retikulären Tonus, der seinerseits das gesamte Gehirn in einem Zustand der Wachsamkeit hält (hierin liegt die wachhaltende Wirkung motorischer Tätigkeiten). Diese Aktivierung liefert dem Verhalten die notwendige Energie, ohne ihm eine bestimmte Richtung zu geben. Erst über die Verbindungen zum limbischen System wird die erhöhte Leistungsbereitschaft in eine bestimmte Richtung gelenkt. Über Verbindungen zum Hypothalamus besitzt das retikuläre System Zugang zu hormonalen und viszeromotorischen Vorgängen.

2. Beeinflussung des Muskeltonus und der Reflexaktivität. Über die retikulo-bulbären und -spinalen Verbindungen beeinflußt die FOR die Alpha- und Gamma- Motoneurone. Gemeinsam mit dem vestibulären System sind diese Verbindungen an der Aufrechterhaltung des Tonus der Anti-Gravitationsmuskeln beteiligt.

3. Kontrolle somatischer und viszeraler Wahrnehmung. Besondere Bedeutung besitzt die FOR bei der Wahrnehmung von Schmerzreizen (siehe schmerzleitendes System).

6. Zusammenfassung

1. Die FOR besteht aus einem dreidimensionalen Maschenwerk von Zellen und ihren Fortsätzen um Hirnstamm.
2. Strukturell läßt sich die FOR in 3 Längszonen gliedern, die vom Mittelhirn bis zur Medulla oblongata reichen. Die inneren Zweidrittel sind durch große, die laterale Zone durch kleine Zellen gekennzeichnet.
3. Die Zugänge zur FOR stammen aus zahlreichen spezifischen auf- und absteigenden Systemen. Kollaterale dieser Systeme konvergieren auf (nicht-modalitätsspezifischen) Zellen und bewirken eine Aktivierung der FOR.
4. Die großen auf- und absteigenden Efferenzen entspringen in der medialen Zone.
5. Mit histochemischen Methoden lassen sich mehrere sog. Neurotransmitter-Systeme bestimmen.
6. Funktionell repräsentiert die FOR ein System, das
a.) die gesamte Motorik beeinflußt: absteigendes retikuläres System
b.) die Weiterleitung sensorischer Information zur Großhirnrinde fördert und unterdrückt
c.) bei seiner Reizung zu einer Weckreaktion führt
d.) enge Beziehung zu vegetativen Zentren besitzt.

Hierdurch ist die FOR maßgebend für den Bewußtseins- und Wachzustand, die Akzentuierung von Sinneswahrnehmungen, die Beeinflussung von Haltung und Bewegung, die zentrale Kreislauf- und Atemregulation, viszero-motorische Reflexe.