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06 Rückenmark (Medulla spinalis)

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1. Lage und äußere Form des Rückenmarks

Das Rückenmark stellt den im Wirbelkanal gelegenen Abschnitt des ZNS dar. Sein oberes Ende beginnt auf der Höhe des Hinterhauptslochs (Foramen occipitale magnum) an der Grenze zum verlängerten Mark (Medulla oblongata); sein unteres Ende läuft spitz aus (Conus medullaris) und liegt beim Neugeborenen auf der Ebene der Wirbelkörper L3, beim Erwachsenen auf der Ebene der Wirbelkörper L1/L2. Beim Erwachsenen besitzt das Rückenmark eine Länge von ca. 40-45 cm und ein Gewicht von ca. 35g. Der Subarachnoidalraum reicht hingegen bis zum 2. Sakralwirbel; die Spinalnerven L2-S5 und Co (Steißbeinnerv) ziehen als Cauda equina (Pferdeschwanz) im Subarachnoidalraum bis zum Austritt zwischen den entsprechenden Wirbelkörpern bzw. bis auf das Niveau von S2 (Abb. 1a).

Das Rückenmark besitzt zwei Anschwellungen, die Hals- und Lendenanschwellung (Intumescentia cervicalis et lumbalis); sie werden durch den Zuwachs der grauen Substanz und durch die Faserverbindungen mit den oberen und unteren Extremitäten bedingt, da hier gegenüber den anderen Abschnitten vermehrt Nervenfasern und -Zellen untergebracht werden müssen (Abb. 1b).

Abb. 6-1: Das Rückenmark
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a. Lage des Rückenmarks im Wirbelkanal.

b. Schematische Darstellung des Rückenmarks mit Kennzeichnung der Zervikal- (C), Thorakal- (T), Lumbal- (L), Sakral- (S) und Coccygealabschnitte (C sowie des Verlaufs afferenter Leitungsbahnen; der zahlenmäßig hohe Zu- und Abgang der Fasern im Bereich der Extremitäten führt zu lokalen Anschwellungen des Rückenmarks.

c. Graphische Darstellung der von der grauen und weißen Substanz im Rückenmark eingenommenen Querschnittsfläche.

Abb 6-2: Schematische Darstellung eines Rückenmarksegments mit hinterer und vorderer Wurzel.
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1: Fissura mediana anterior;

2: Sulcus medianus posterior;

3,4: Sulcus antero- und posterolateralis

In Längsrichtung des Rückenmarks verlaufen mehrere Furchen (Abb. 6-2):

  • Fissura mediana anterior: tiefer Spalt vorne in der Medianebene,
  • Sulcus medianus posterior: flache Rinne hinten in der Medianebene,
  • Sulcus antero- und posterolateralis: verbinden die Ein- bzw. Austrittsstellen der Wurzeln.

2. Innere Organisation des Rückenmarks

Das Rückenmark lässt sich in graue und weiße Substanz gliedern (Abb. 6-1c, Abb. 6-2). Im Zentrum liegt die graue Substanz ("Schmetterlingsfigur") umgeben vom Markmantel der weißen Substanz. Die seichten seitlichen Furchen, die den Austritt der vorderen und hinteren Spinalwurzeln markieren, teilen den Markmantel auf jeder Seite in zwei Hauptstränge: Vorderseitenstrang (Funiculus anterolateralis) und Hinterstrang (Funiculus posterior). Das Verhältnis von grauer zu weißer Substanz ist in den einzelnen Abschnitten des Rückenmarks unterschiedlich (Abb. 6-1c).

Die graue Substanz liegt zentral. Sie enthält Neurone. Sie besitzt die Form eines Schmetterlings oder eines "H" und ordnet sich um den Zentralkanal an. Man unterscheidet ein vorderes und hinteres Horn grauer Substanz (Cornu anterius et posterius). Beide sind auf allen Ebenen des Rückenmarkes zu finden. Ein Seitenhorn (intermedio-laterale Zellsäule) befindet sich nur in den Segmenten Th 1 bis L 2 (3) (präganglionäre sympathische Nervenzellen).

Die weiße Substanz liegt peripher zur grauen Substanz. Sie setzt sich aus markhaltigen Axonen zusammen. Durch die ein- und austretenen Nervenwurzeln wird sie grob in 3 bilateral paarige Säulen (Funiculi) gegliedert: Hinterstrang, Seitenstrang und Vorderstrang (letztere werden meist zum Vorderseitenstrang zusammengefaßt).

Abb 6-3: Querschnitt durch das Rückenmark.
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In der grauen Substanz werden ein vorderes und hinteres Horn grauer Substanz sowie (im Thorakolumbalbereich) ein Seitenhorn unterschieden. In der weißen Substanz werden grob Hinterstrang (HS, zwischen Sulcus posterior und hinterer seitlicher Längsfurche), Vorderstrang (VS, zwischen medianem Längsspalt und vorderer Seitenfurche) und Seitenstrang (SS, zwischen vorderer und hinterer Seitenfurche) unterschieden.

3. Gliederung der grauen Substanz

Im Rückenmark finden sich drei Arten neuronaler Elemente:

Tabelle 6-1:

1.

die zentralen Fortsätze der primär sensiblen (afferenten) Neurone (deren Zelleib im Spinalganglion liegt),

2.

Projektionsneurone:

2a.

Neurone, deren Axone das Rückenmark verlassen um Skelettmuskeln oder vegetative Ganglien zu innervieren (Motoneurone),

2b.

Neurone, die als Ursprungsneurone von Rückenmarksverbindungen zu dienen (Trakt- oder Strangzellen).

3.

Neurone, deren Axone im ZNS verbleiben um entweder segmental im Rückenmark zu enden (Interneurone).

Gliederung der grauen Substanz in Kerngruppen (Kerne des Rückenmarks):
Neurone sind nicht gleichmäßig innerhalb der grauen Substanz des Rückenmarks verteilt.

  • Das Hinterhorn enthält vorwiegend Zellen, die die Afferenzen mit anderen Regionen des ZNS verschalten.
  • Das Vorderhorn enthält vorwiegend die motorischen Zellen, die die Skelettmuskulatur innervieren.
  • Im Seitenhorn finden sich die motorischen Zellen des autonomen NS.

Hinter-, Vorder- und Seitenhorn können in bestimmte Kerne unterteilt werden. Die wichtigen Kerne (Abb. 6-4 bis Abb. 6-7) zusammengefasst.

Abb 6-4: Grundgliederung der weißen und grauen Substanz des Rückenmarks
Abb 6-5 bis 6-7: Gliederung der grauen Substanz in Zellsäulen bzw. Laminae (Laminäre Architektur (Rexed, 1952):

4. Gliederung der weißen Substanz

Merke:

Axone verlaufen (meist) als umschriebene Bündel. Diese sind funktionell angeordnet und somatotopisch gegliedert. Für eine klinisch-neurologische Diagnostik ist die Kenntnis der inneren Organisation von elementarer Bedeutung.

Die afferenten Nervenfasern treten als zentrale Fortsätze von Spinalganglienzellen durch die hintere Wurzel in das Rückenmark ein (Wurzelfasern). Die efferenten Nervenfasern treten durch die vordere Wurzel aus dem Rückenmark heraus.

Die Hinterstränge beider Seiten liegen zwischen den Hinterhörnern (Hintersäulen). Die Vorderseitenstränge schließen sich ventral bis zur Mittellinie an.

5. Leitungsbahnen des Rückenmarks

In den Hintersträngen beider Seiten verlaufen die Hinterstrangbahnen (s.u.).
In der Vorderseitenstrangbahn liegen u.a. 3 Teilsysteme des Schmerzleitungssystems:

  • Tr. spino-thalamicus,
  • Tr. spino-reticularis und
  • Tr. spino-tectalis.

Der Tr. spino-thalamicus (Tr. neo-spinothalamicus)

Der Tr. spino-reticularis (Tr. palaeo-spinothalamicus) ist Teil einer Verbindung zum Thalamus, die in der Formatio reticularis unterbrochen ist (Tr. palaeo-spinothalamicus). Er verläuft ipsi- und kontralateral in die Formatio reticularis (siehe Kap. 8). Diese Bahn dient der Leitung des dumpfen Schmerzes und spielt eine Rolle bei der Beeinflussung des Aufmerksamkeitsniveaus.

Der Tr. spino-tectalis zieht gekreuzt gemeinsam mit dem Tr. spino-thalamicus lat. Er endet in den tiefen Schichten des Tectums und in der Substantia grisea centralis mesencephali. Diese Bahn spielt eine Rolle für visuo-motorische Reflexe (Stellungsänderungen der Augen bei Rumpfbewegungen) und für Abwehrreaktionen bei Schmerzreizen.

Bezogen auf die Lage des Zentralkanals wird die weiße Substanz, die die Mittellinie kreuzt, in eine dorsale und ventrale Kommissur getrennt. Die ventrale Kommissur ist wesentlich deutlicher als die dorsale erkennbar.

Abb 6-8: Gliederung der grauen und weißen Substanz des Rückenmarks auf einem Querschnitt im Bereich des oberen Brustmarks.
  Aufsteigende Bahnen (grün)  
HS 1,2, Fc. gracilis et cuneatus
(= Tr. spino-bulbaris)
(Vibration, Kinästhesie, Zwei-Punkt-Diskrimination)
SS 3, 4, Tr. spino-cerebellaris ant.; post. Proprioception
  5, Tr. spino-thalamicus lat. Schmerz, Temperatur
  6, Tr. spino-tectalis Reflexe
  7, Tr. spino-thalamicus ant. Druck, Berührung
  8, Tr. spino-reticularis  
VS 9, Tr. spino-olivaris Proprioception
  Absteigende Bahnen (rot)  
HS 10, Fc. interfascicularis und septomarginalis Assoziation und Integration
SS 11, Tr. cortico-spinalis lat. Willkürmotorik
  12, Tr. rubro-spinalis Muskeltonus und Synergie
  13, Tr. olivo-spinalis Reflexe
VS 14, Tr. cortico-spinalis ant. Willkürmotorik
  15, Tr. vestibulo-spinalis Gleichgewicht
  16, Tr. tecto-spinalis Hör- und Sehreflexe
  17, Tr. reticulo-spinalis lat. et ventr. Muskeltonus
  18, Fc. longitudinalis med.  

6. Segmentale und vertikale Organisation

Das Rückenmark ist sowohl segmental als auch vertikal organisiert. Die Rückenmarksbahnen umfassen daher sowohl segmentale als auch auf- und absteigende Faserverbindungen.

Abb 6-9: Segmentale und vertikale Organisation des Rückenmarks.

Segmentale Verbindungen: Im einfachsten Fall sind 2 Neurone für die Aufnahme von Reizen und ihre Weitergabe in Form motorischer Aktivität vorhanden. Diese direkte Verbindung eines sensiblen Neurons mit einem oder mehreren motorischen Neuronen bildet den einfachen Reflexbogen. In der Regel sind jedoch Interneurone zwischen sensiblen und motorischen Neuronen eingeschaltet.

Vertikale Verbindungen: Die auf- und absteigenden Rückenmarksbahnen werden in den Kapiteln 10 und 11 ausführlich besprochen; sie umfassen jeweils Fernleitungsbahnen und Kurzstrecken.

1. Aufsteigende, afferente Systeme:
a. Lange Tractus:

  • Hinterstrangbahn (Fc. gracilis, Fc. cuneatus),
  • Vorderseitenstrangbahn (Tr. spinothalamicus anterior und lateralis), sowie
  • Kleinhirnbahnen (Tr. spino-cerebellaris anterior und posterior).

b. Kurze Tractus: Fasciculus dorsolateralis und Fasciculus proprius.

2. Absteigende Faserverbindungen:
a. Lange Verbindungen:

  • Pyramidenbahn (Tr. cortico-spinalis) und
  • extra-pyamidale Faserverbindungen

b. Kurze Tractus: Fc. dorsolateralis, Fc. proprius, Fc. septomaginalis, Fc. interfascicularis.

Abb 6-10: Segmentale und vertikale Organisation des Rückenmarks.
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Als Beispiele der aufsteigender Bahnen sind der Tr. spino-thalamicus (1), der Fc. gracilis und cuneatus (2) und als Beispiel einer absteigenden Bahn der Tr. cortico-spinalis lat. (4) berücksichtigt.

7. Der Eigenapparat

Der Eigenapparat (propriospinaler Apparat) besteht aus der Gesamtheit aller Fasern (sog. Grundbündel) und Schaltneurone, die innerhalb des Rückenmarks verbleiben. Sie bilden dort lokale Verbindungen oder kurze Leitungsbahnen, die einzelne Abschnitte innerhalb des Rückenmarks verbinden. Er dient damit der Koordinierung von Einzelleistungen „vor Ort“ und ermöglicht damit eine einheitliche Leistung über mehrere Segmente (Abb. 6-8).

8. Rückenmarkshäute

Wie das Gehirn wird das Rückenmark von drei Hirnhäuten umhüllt. Im Gegensatz zum Gehirn sind jedoch Periost und die Dura des Rückenmarks (Dura mater spinalis) getrennt (siehe Kapitel. 23). Der spinale Epiduralraum ist daher als „echter“ Raum repräsentiert; er wird von Fettgewebe und dem vertebralen venösen Plexus ausgefüllt.

Abb 6-11:
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a, Lage des Rückenmarks im Spinalkanal.

b, Beziehung des Rückenmarks zu den Rückenmarkshäuten und zur Wirbelsäule.

1, Epiduralraum (mit Fett und Venen),
2, Subduralraum,
3, Subarachnoidalraum (Liquorraum),
4, Periost,
5, Dura,
6, Arachnoidea,
7, Pia,
8, Wirbelkörper,
9, Spinalnerv,
10, Spinalöganglion,
11, Wirbelkörper.

9. Gefäßversorgung

Abb 6-12:

Zur Versorgung des Rückenmarks gibt es sowohl longitudinal wie transversal (segmental) verlaufende Gefäße. Die längs verlaufenden Gefäße entstammen aus der A. vertebralis und werden durch die unpaare A. spinalis anterior und die beiden paarigen Aa. spinales posteriores gebildet. Die A. spinalis anterior verläuft median im Sulcus medialis ant., die Aa. spinales post. an der Eintrittsstelle der hinteren Wurzel.

Die segmentale Versorgung erfolgt aus (interkostalen u.a. ) Ästen von Arterien, die außerhalb der Wirbelsäule liegen. Sie treten als kleine segmental verlaufende Arterien durch die Foramina intervertebralia in den Wirbelkanal ein. Jede segmentale A. spinalis teilt sich in eine A. radicularis ant. und post., die jeweils mit den Nervenwurzeln verlaufen und mit den längs verlaufenden Gefäßen anastomosieren. Verlauf und Volumen der Rückenmarksarterien sind sehr variabel. Der venöse Abfluss erfolgt zunächst in 6 längs verlaufende, stark gewundene Kanäle, in ihrer Gesamtheit den Plexus vertebralis bilden und mit dem venösen System der Hirnvenen und Sinus des Schädels anastomosieren.

10. Angewandte Anatomie

  • Durchblutungsstörungen des Rückenmarks, sowie Verletzungen von Rückenmarksabschnitten werden in Kap. 10 und Kap. 22 besprochen.
  • Liquorentnahme
  • operative Rückenmarksfreilegung (Laminektomie)
  • Rückenmarksentzündung (Myelitis)

11. Zusammenfassung

Das Rückenmark liegt an der dorsalen Rumpfseite innerhalb des Wirbelkanals. Beim erwachsenen Menschen reicht es kaudal bis in Höhe von L1-2.

Der 1. Zervikalnerv tritt oberhalb des 1. Wirbelkörpers, der 8. Zervikalnerv tritt unterhalb des 7. Halswirbels aus. Die übrigen Rückenmarksnerven werden nach dem Wirbelkörper benannt, unter dem sie austreten.

Anschwellungen entstehen an den Ein- und Austrittsorten der Nerven der oberen und unteren Extremitäten.

Das Rückenmark besteht aus grauer und weißer Substanz. Im Querschnitt liegt die graue Substanz innen, die weiße außen. Die Relation von weißer und grauer Substanz ändert sich in verschiedenen Ebenen. Manche Kerne (z.B. Ncl. dorsalis, intermedio-laterale Zellsäule) finden sich nur in bestimmten Abschnitten des Rückenmarks.

Die Graue Substanz wird in Vorder-, Seiten- und Hinterhorn unterteilt. Sie nimmt afferente Informationen auf und gibt diese entweder an die Peripherie oder an des Gehirn weiter.

Die weiße Substanz enthält längs verlaufende Bündel (= Säulen). Diese sind somatotopisch gegliedert.

Das Rückenmark erfüllt 3 wesentliche Aufgaben:
1. es dient als Schaltorgan,
2. es enthält die Motoneurone, die die Bewegung des Rumpfes vermitteln,
3. es dient als Leitungsorgan.

Anhang

Unterscheidungsmerkmale der Rückenmarkquerschnitte im Zervikal- (C), Thorakal- (T), Lumbal- (L), Sakralbereich (S).

a) Im Cervicalbereich: Gliederung der Hinterstränge.
b) Im Thorakalmark sehen Sie sich besonders die Seitenhörner und den Ncl. dorsalis (= Ncl. thoracicus, Stilling-Clarke'sche Säule) an. Überdenken Sie, warum die Vorderhörner in diesem Bereich nur schwach ausgebildet sind.
c) Im Lendenmark wird Ihnen die fehlende Unterteilung der Hinterstränge auffallen.
d) Im Sakralmark: Geringer Anteil der weißen Substanz.

12. Fragen

(es werden die folgenden Querschnittsbilder seriell gezeigt; der Proband muss die +/- korrekte Querschnittsebene benennen.

Querschnitte: Benennen Sie die Querschnitte